Adventsstimmung zwischen Kette und Schuss.
Selbst an trüben Novembertagen bietet das Textilmuseum in Bocholt einen trostspendenden Anblick. Warm und heimelig leuchten die roten Backsteine der ehemaligen Werksgebäude und laden zu einem Besuch ein. Vom 24. bis 29. November stellten Hobbykünstler hier ihre Kunstgegenstände aus. Dem Besucher gewährten sie dabei so manchen interessanten Blick über die Schulter.
Wie am Schnürchen
Auch ohne den alljährlich stattfindenen Adventsmarkt taucht der Besucher des Textilmuseums unwillkürlich ein in eine andere Zeit. Es ist das Ambiente einer typischen Baumwollweberei mit Kesselhaus und Dampf- maschine, Werkstatt, Meisterbude und Kontor, die ihn mitnimmt auf eine Reise ins vergangene Jahrhundert, in den Alltag der mit ihren Familien hier arbeitenden und lebenden Weber. Das im Eingangsbereich kaum wahrnehmbaren Rattern eines Spinnrades scheint perfekt dazu zu passen. Ein schnelles Aufblitzen, mehr ist es nicht, was das menschliche Auge von dem sich auf der Spindel rasch aufwickelnden Faden wahrnimmt. Gleichmäßig bewegt sich das Trittbrett unter den Füßen von Frau G.* auf und ab. Tatsächlich scheint sich die in ihrer Hand befindliche braunmelierte Rohwolle mühelos in einen ansehnlichen Faden zu verwandeln. Frau G.* lacht: „Das lief natürlich nicht von Anfang so glatt. Dank fachmännischer Unterstützung habe ich die Technik erlernt und erfahren, worauf es ankommt. Heute zählt das Spinnen zu meinem schönsten und entspannendsten Hobbys.“ Wer Lust hat, sich selber an diesem traditionellen Handwerk zu probieren, ist herzlich in die Spinngruppe des Textilmuseums eingeladen.
Gestochen scharf
Auf der gegenüberliegende Seite beugen sich die Besucher über einen scheinbar zu groß geratenen Setzkasten, bestaunen kleine hölzerne Gegenstände. Ordentlich sortiert warten hier mehrere hundert handgestochene Stoffdruckmodeln darauf, mit ihren filigranen Motiven Tischdecken, Läufer, Kissenhüllen, Servietten, T-Shirts und vieles mehr zu verzieren. Wie herrlich ist es, einen Blick auf die vielen verschiedenen Formen und Muster zu werfen und immer wieder Neues zu entdecken. Hier die streng grafischen Art-Deco-Muster, dort weihnachtliche Motive, daneben verspielte Steublümchen-Dekore, Bordüren, Mandalas und – man kommt aus dem Staunen nicht heraus – die Fassaden sämtlicher Münsteraner Giebelhäuser des Prinzipalmarkts. Frau L.* betupft die Modeln vorsichtig mit Textilfarbe und lässt mit einer rollenden Bewegung nicht nur ständig neue Motive auf dem Musterpapier entstehen, sondern vermittelt auch einen Eindruck von der Liebe zum Detail und der hohe Handwerkskunst, mit der die Modeln aus Harthölzern gestochen werden. Als Vorlage dienen alte Originale, aber auch eigene Entwürfe von Blauweisschen aus Davensberg bei Münster. Zur Zeit bietet Ellen Ostendorf über 2.000 Motive und mehr als 100 untereinander mischbare Farbtöne für den Stoffdruck an. Damit lassen sich Baumwolle, Leinen, Halbleinen, Wolle und Seide in kochfeste, einzigartige Kunstwerke verwandeln.
Eine reizvolle Kombination
Einige Schritte weiter und der Besucher betritt die größte Ausstellungshalle des Adventsmarktes, die ehemaligen Webehalle. Hier, wo früher die Transmissionsriemen die Webstühle antrieben und die durchschießenden Schiffchen die Schuss- mit den Kettfäden zu einem festen Gewebe verbanden, herrscht heute ein entspannte und ruhige Atmosphäre. Neben dem Jacquard-Webstuhl reihen sich auf kleinen Kleiderbügeln ordentlich genähte Puppenkleider aneinander. Daneben ein Stand mit fast ebenso kleinen, für Babys und Kleinkinder gestrickte Söckchen und Schühchen. Bunt marmorierte Papiere, großformatige Acrylbilder, handgefertigte Tedyybären nebst eigener Garderobe, mundgeblasener Schmuck und Tiffany nehmen neben den alten Maschinen wie selbstverständlich ihren Platz ein.
Einfach Spitze
Einen reizvollen Kontrast bildet der industrielle Hintergrund mit den farbenfrohen, teils verspielten Kunstgegenständen. Ganz besonders feine, spitzenartige Weihnachtsbaumanhänger geben den alten Webstühlen sogar einen Hauch von Eleganz und Verspieltheit. Zwei Frauen verraten, wie diese Kunstwerke entstanden sind: Behände bändigen Frau D.* und Frau S.* mit ihren kleinen spindelförmigen Klöppeln das scheinbare Fadenchaos auf ihrem Schoß. Blitzschnell werden durch Kreuzen und Drehen die Fäden miteinander zu einem spitzenartigen Muster verbunden, mit Stecknadeln die Arbeit immer wieder fixiert. Das Muster entsteht entweder frei oder mit Hilfe des unter der Arbeit befestigten Klöppelbriefs. Mehrere Wochen arbeitet Frau Dürholt an einem Spitzendeckchen, die kleinen und zusätzlich gestärkten Weihnachtsbaumanhänger waren weniger arbeitsaufwendig, fallen im Ergebnis aber nicht weniger dekorativ aus. „Klöppeln als alte Handarbeitskunst erfreut sich heute wieder zunehmender Beliebtheit“, stellt Frau S.* mit Verweis auf den immerhin 4.000 Mitglieder starken deutschen Klöppelverband fest. „Und Klöppeln ist weit weniger schwierig und kompliziert, als es auf den ersten Blick aussieht.“ Wer sich mit Klöppelwerkzeugen und Klöppelmaterialien vertraut machen möchte, kann sich an die Ladbergerin Birgit Sarzio wenden, die Schnupperkurse und Workshops veranstaltet.
Ziemlich ausgefeilte Technik
Der Rundgang auf dem Bocholter Adventsmarkt führt weiter durch Kesselhaus, Werkstatt, Remise hinein in die angrenzenden Arbeiterhäuser. Dass hier am warmen Küchenofen vor hundert Jahren nicht nur wegen mangelnder Unterhaltungsmöglichkeiten, sondern auch aus rein praktischen Erwägungen an den langen Winterabenden die Nadeln klapperten, erscheint naheliegend. Heute findet man an dieser Stelle wieder Selbsgestricktes. Unterm Dach hat sich Margarete Dolff mit ihrer handgefärbten Wolle und ihren beeindruckenden Strickprojekten eingerichtet. Eine Kollektion unterschiedlicher Modelle, Macharten und Techniken zeigt und erklärt die Bocholterin bereitwillig: Gemusterte oder geringelte Socken, vom Bündchen oder von der Spitze aus gestrickt, Tücher in feinster Ajour-, Handschuhe in Fair-Isle-Technik und in sanften Wellen dahinfließende Schals. Margarete Dolff fasziniert am Stricken die Idee, für jedes Garn ein passendes Modell mit perfekter Passform zu kreieren. „Ich überlege mir, wie das fertige Strickstück aussehen soll und tüftele danach die Form aus“. Auf den Tischen stapeln sich handgefärbte Stränge in unterschiedlichen Qualitäten und lassen ihr Geheimnis erahnen: Faszinierende Farbverläufe offenbaren sich beim Verstricken, mal in Form einer sanften, allmähliche Färbung, mal als krachender Regenbogen oder einfach als gleichmäßige Ringel. Margarete Dolff gibt ihr Wissen gerne weiter. In ihren Workshops lernt man, wie man Socken die perfekte From verpasst, wie Fischerpullover gestrickt, Arans entworfen oder Taschen und Clogs gefilzt werden. Auf Anfrage vermittelt sie dieses Wissen gerne auch im heimischen Wohnzimmer.
Gar nicht verstaubt
Nicht nur interessante Einblicke in verschiedene Handarbeitstechniken, sondern so manches ausgefallene Weihnachtsgeschenke lässt sich auf dem Bocholter Adventsmarkt finden. Jedes einzelne Teil gibt dabei Auskunft über die Sorgfalt und Liebe bei der Herstellung, ob es sich nun um mundgeblasenen Schmuck, Krippenfiguren, Hüte oder die kulinarischen Köstlichkeiten von Imker, Metzger oder Bäcker handelt. Und auch die während des gesamten Jahres im Museumsladen erhältlichen Original-Gruben- oder Halbleinen-Trockentücher, die das Textilmuseum selbst herstellt, stehen in unserer schnelllebigen Zeit für eine Form von Beständigkeit, die viele Menschen auch außerhalb der Adventszeit.
LWL-Industriemuseum
Textilmuseum in Bocholt
Uhlandstr. 50
46397 Bocholt
Tel. 02871 21611 - 0
E-Mail: textilmuseum@lwl.org
Öffnungszeiten
Di bis So sowie an
Feiertagen 10 bis 18 Uhr
* Die mit einem Sternchen gekennzeichneten Namen sind frei erfunden.
wollvictim - 7. Dez, 09:55
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